Luette

Lütte im 20. Jahrhundert

Beiträge zur Geschichte Teil 2

Erfragt, berichtet, aufgeschrieben und fortgesetzt von Werner Leisegang und Lütter Bürgern
Herausgeber: Gemeinde Lütte
Redaktion: Werner Leisegang (Lütte), Helga Kästner (Belzig)
Fotografische Gestaltung:Werner Leisegang und Günter Kästner
unter Verwendung von Fotos aus dem Privatbesitz der Bürger
Auflage: 1. Auflage (600 Exemplare) 1998

Inhalt

Entwicklung in Lütte in diesem Jahrhundert
Streifzug durch die Geschichte Aus dem Tagebuch des Stützpunktkommandanten - April 1945
Kommunale Verwaltung
Verwaltung bis 1945 Verwaltung 1972 bis 1990 Verwaltung nach BRD-Strukturen
Kinder und Jugend
Kinder im Vorschulalter Kinderkrippe Kindergarten Kinder im Schulalter Lütter Jugend
Die Landwirtschaft
Das bäuerliche Leben Vom Einzel- zum Genossenschaftsbauern Genossenschaftliche Rinderzucht und Milchviehhaltung KAP und LPG-Pflanzenproduktion Von der LPG zur Agrargenossenschaft „Planetal" Lütte e.G. Kleingärtner und Siedler
Handel und Gewerbe
Holzverarbeitende Betriebe Metallverarbeitende Betriebe Lebensmittelbetriebe, Handel und Dienstleistungen
Baumaßnahmen
Verkehrsmittel
Post und Telefon
Kirchliches Leben in der Gemeinde Lütte
Wald und seine Bewirtschaftung
Lütter Jagd
Organisationen, Vereine und Gemeinschaften
Lütter Menschen

Entwicklung in Lütte in diesem Jahrhundert

Streifzug durch die Geschichte

Wie überall in den vergangenen 100 Jahren war auch das Leben im Dorfe Lütte eng mit dem Geschehen im Staate verbunden. Rein historisch könnte man zeitlich mehrere Abschnitte festlegen: Die Monarchie und ihr Ende mit dem Ersten Weltkrieg. Die Nachkriegszeit mit der Weimarer Verfassung - ein demokratischer Versuch, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die nationalsozialistische Diktatur und deren Ende mit dem Zweiten Weltkrieg. Die Nachkriegszeit unter der sowjetischen Besatzungsmacht mit anfangs erneuten Versuchen, als Deutsche Demokratische Republik (DDR), eine friedliche Zukunft aufzubauen, die aber sehr bald zu einer fremden Machtinteressen dienenden Diktatur wurde und durch den sogenannten „Kalten Krieg" zwischen westlichem Kapitalismus und östlichem „Sozialismus" geprägt wurde. Und schließlich der Anschluß an die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Gewöhnung an westliche Verhältnisse mit ihren Vor- und Nachteilen. Vor dem Ersten Weltkrieg: 1905 lebten in Lütten 670 Einwohner. Die meisten waren in der Landwirtschaft tätig. Außerörtliche industrielle Arbeitsplätze waren nur schwer erreichbar. So mußten fast alle Dinge eines recht genügsamen Bedarfs selbst erzeugt oder mit den sehr geringen Verdiensten käuflich erworben werden. Der berufliche Weg der meist zahlreichen Kinder lag im voraus fest. In größeren Landwirtschaften arbeiteten sie im elterlichen Betrieb, übernahmen diesen gewöhnlich im mittleren Alter als Erbe oder wurden bei ihrem Weggang, oft zwecks Einheirat in einen anderen Hof, „ausgezahlt". Das heißt, neben der üblichen Mitgift an Wäsche und Möbeln, bekamen sie Acker-, Wiesen- oder Waldflächen „mit" (als Eigentum überschrieben) oder, soweit vorhanden, auch bares Geld als Erbteil und für ihre bis dahin geleistete Arbeit.
Von den Nachkommen kleinerer Betriebe fand gewöhnlich nur der spätere Erbe Arbeit und Brot im Elternhaus. Alle anderen „dienten", das heißt verdingten sich nach Abschluß der Schule, also in der Regel mit 14 Jahren als Knechte oder Mägde in größeren Landwirtschaften. Sie wurden anfangs als „Kleine", mit fortgeschrittenem Alter und Können als „Große" Knechte oder Mägde geführt und auch bezahlt, wobei der Jahreslohn normalerweise vor Arbeitsantritt (meistens Januar) festgelegt war, und anfangs mit 60 bis 80 Talern (= 3 Mark) , aber auch später nicht gerade üppig war. Gewöhnlich kamen zu besonderen Anlässen noch Wäsche oder Kleidungsstücke hinzu. Kost und Logis waren frei, wobei letzteres für die Knechte in der Regel ein abgeteilter Verschlag im Pferdestall war. Exakte Festlegungen zur Arbeitszeit gab es nicht. Die anstehenden Feldarbeiten wurden nach Dringlichkeit, notfalls auch sonntags, geleistet. Dazu kamen täglich morgens und abends die Stallarbeiten zur Versorgung der Tiere, wobei die Männer gewöhnlich die schweren Arbeiten verrichteten. Da es noch kein elektrisches Licht gab, sorgte die Sonne im Winter für kürzere, erlaubte aber im Sommer oft auch recht lange Arbeitstage. Gab es für die Ackerbearbeitung zwar schon Pflug und Egge, gezogen von Pferden, Ochsen und häufig auch Kühen, so war besonders auf dem „Grabeland", den feuchten Niederungsböden, der Spaten das Arbeitsgerät. Die Aussaat oder das Setzen war dann wieder reine Handarbeit. Geerntet wurden die Kartoffeln mit der Hacke, Getreide und Gras mit der Sense. Nur wer den fachgerechten Umgang hiermit noch gelernt hat, kann ermessen, wie schwer es war, in der Sommerhitze tage- und wochenlang die Sense zu schwingen, obgleich das nachfolgende „Abnehmen" und Einbinden sowie „Aufmandeln" der Getreidebunde auch nicht leicht war. Das in die Scheune eingefahrene Getreide wurde zum größten Teil nach Abschluß der Feldarbeiten im Winter auf dem festen Lehmboden des Scheuneflurs mit dem hölzernen Dreschflegel ausgedroschen und dann mit Sieben vom Spreu gereinigt, sofern nicht schon eine einfache Trommel-Dreschmaschine vorhanden war, deren gußeiserne Welle zum Auslösen der Körner durch einen von Pferden im Kreisgang bewegten Göpel angetrieben wurde. Als erste Erntemaschinen wurden um 1910 von Pferden gezogene Grasmäher, mit denen auch Getreide geerntet werden konnte, und dann die speziell hierfür gebauten „Ableger" von einigen Betrieben angeschafft. Beim letzteren fielen die abgeschnittenen Halme auf eine blecherne Plattform und wurden dann gesammelt mit Hilfe von vier hölzernen Flügeln in einstellbaren Bundgrößen hinuntergeschoben. So „abgelegt" brauchten die Garben nur noch mit Hilfe eines Bandes aus einer Hand voll Halmen eingebunden werden. Aus finanziellen Gründen wurden landwirtschaftliche Maschinen auch von mehreren Betrieben gemeinsam gekauft und genutzt. Interessante Einblicke in die Ein- und Ausgaben einer bäuerlichen Wirtschaft vermittelt ein von Karl Lüdicke (Bahnhofstraße 36) von 1912 bis 1922 exakt geführtes Kassenbuch. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges stehen dort als Verkaufspreise unter anderem: 1 Liter Milch 9 Pfennige, 1 Mandel Eier (16 Stck.) je nach Jahreszeit 0,80 bis 1,20 Mark, 1 Hähnchen 0,60 M, 1 Pfund (1/2 kg) Butter 1,10 M, 1 Zentner (50 kg) Kartoffeln 2 M, 1 Zentner Roggen 10 M, 1 Paar Ferkel 25,00 M, 1 Schwein (3 1/2 Zentner) 167 M, 1 Schaf 38,75 M, 1 Kuh = 500 M. Feldprodukte wie Getreide und Kartoffeln wurden größtenteils als Viehfutter verwendet, um so zu Fleisch veredelt, höhere Erlöse zu erzielen. Erst zum Ende des Krieges mußten Brotgetreide und Kartoffeln abgeliefert werden. Die Ausgabenseiten nehmen auch damals schon mehr als den doppelten Raum ein. Aus den vielen verschiedenartigen Rechnungs- und Quittungsbeträgen entnehmen wir: 1 Harke 1,25 M, 1 Liter Petroleum 0,22 M, 1 Zentner Roggenmehl 12 M, 1 Paar Schuhe 11,50 M, 2 Eimer Braunbier von Herrmann zur Ernte 3,60 M (wahrscheinlich Jungbier zum Auffüllen in Flaschen), 1000 Mauersteine von Kirsten, Belzig 25 M, Kreisblatt (Zeitung) pro Vierteljahr 1,40 M, Schulgeld (Belzig ) für Sohn monatlich 12,50 M, Schrotmühle 450 M, Lohn Kleiner Knecht 60,00 M, Große Magd 65 M, Großer Knecht 90,00 M und ebenso monatlich: Taschengeld für mich 15 M und Haushaltsgeld für die Frau 15 M, wobei hier jedoch bald eine Änderung eintrat: Ersteres um 5 M gekürzt, letzteres um 5 M erhöht. Offen bleibt, wofür beide Posten verwendet wurden oder reichen mußten. Bei Jahresumsätzen von rund 6.000 bis 8.000 M verbleibt ein durchschnittliches steuerpflichtiges Jahreseinkommen von 1332 Mark für die Familie. Daß in jener Zeit mit dem Pfennig gerechnet wurde und ein Taler schon viel Geld sein konnte, ist so leicht erklärlich. Im Ersten Weltkrieg: Gegen Ende des Ersten Weltkrieges treten dann allgemein zunehmende Preiserhöhungen auf, die schließlich durch die Inflation als Kriegsfolge 1923 mit einer Geldentwertung von 1 000 000 000 Mark zu 1 Rentenmark auch viele Lütter Bürger um ihr mühsam Erspartes bringen. Noch weit härter wiegt die Tatsache, daß von 45 zur kaiserlichen Armee eingezogenen Lütter Männern 27 auf fremder Erde ihr Leben lassen mußten.
Nach dem Ersten Weltkrieg: Vielleicht war es der Krieg mit all seinen schlimmen Folgen, der auch die Menschen auf den Dörfern über ihre Grenzen hinausblicken läßt und sie veranlaßte, verstärkt über ihre politische Zukunft nachzudenken. So fand nach der Novemberrevolution von 1918 erstmals für Lütte im Saal der Gaststätte Herrmann eine gut besuchte Versammlung der Sozialdemokraten statt. Ob politische Strömungen in Lütte sichtbar wurden, ist leider nicht mehr zu erfahren. Obwohl die dem deutschen Volk 1919 im Friedensvertrag von Versailles auferlegten harten Verpflichtungen, wie große Gebietsabtretungen und hohe Reparationsleistungen, auch oder gerade den kleinen Bürger trafen, war das dörfliche Leben doch keinen wesentlichen Erschütterungen ausgesetzt und konnte bald wieder in gewohnte Bahnen verfallen. Von den innerpolitischen Problemen der jungen Weimarer Republik erfuhr man, wie bisher, nur aus dem in Belzig hergestellten „Zauch-Belziger-Kreisblatt". Aus der Vielfalt der über 20 politischen Parteien konnten auf dem Lande am ehesten die Deutsch-Nationalen Fuß fassen. Mit der Mitgliedschaft im Junglandbund glaubten besonders die Jüngeren ihre Interessen vertreten zu können. Sport-, Gesangs- und ähnliche Vereine prägten das dörfliche Leben der zwanziger Jahre. Aber auch Kriegervereine und der „Stahlhelm" als „Bund der Frontsoldaten" versuchten verstärkt, den preußischen Militarismus zu pflegen.
Ein Zweiter Weltkrieg bahnt sich an: Der Kampf gegen das Diktat von Versailles war eines der Ziele der von Adolf Hitler geführten NSDAP (National-Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei). Ihre braununiformierte SA (Sturmabteilung) wurde auch in Lütte und Umgebung zunehmend stärker. Als schließlich infolge der Weltwirtschaftskrise und ihrer in Deutschland enormen Arbeitslosigkeit (über 7 Millionen) die Unzufriedenheit der Bevölkerung immer größer wurde, gelang es der NSDAP mit ihren demagogischen Versprechungen 1933 die meisten Stimmen zu erhalten und mit anderen reaktionären Kräften die Macht zu ergreifen. Auch in Lütte gaben nun Parteigenossen als Ortsgruppenleiter, Bürgermeister, Ortsbauernführer und in ähnlichen Funktionen den Ton an und sorgten für die Umsetzung der braunen Gesetze und Anordnungen. Wirtschaftliches Wachstum und persönlicher Wohlstand überzeugten bald die meisten Kritiker. Unangenehmes, wie die Judenverfolgung, wurden einfach aus dem Bewußtsein verdrängt. Eine stets leicht zu begeisternde Jugend ließ sich mit wohlklingenden Parolen und auch vielen kinder- und jugendfreundlichen Maßnahmen bereitwillig verführen. So war bald, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein ganzes Volk bereit, einer großen wahnsinnigen Führungsclique von revanchelüsternen Generälen und profitgierigen Rüstungsindustriellen auf Gedeih und Verderb zu folgen und Deutschland und seine Nachbarn in den tiefsten Abgrund seiner Geschichte zu stürzen