Fläming

Aus meinem Leben


Geboren 1917, aufgewachsen in Berlin. Studium 1944, durch Kriegsdienst unterbrochen, abgeschlossen. Bei erneutem Fronteinsatz wurde ich 1945 verwundet und kam ins Lazarett nach Belzig. Meine Familie war nach Niemegk evakuiert worden. Dort arbeitete ich bis 1949 vier Jahre als Landarzt. Meine Begeisterung für operative Arbeit veranlasste mich dann aber nach Luckenwalde zu gehen, wo ich ausgebildet und 1953 Facharzt für Chirurgie wurde. Meine intensive Tätigkeit in den Bereichen der Geburtshilfe und Frauenheilkunde, beides war damals noch nicht exakt getrennt, ließ mich erkennen, dass dieses Fach mein Endziel werden musste. In der Frauenklinik Berlin-Friedrichshain ließ ich mich daher bei Professor Pschyrembel ausbilden und wurde dort 1957 Facharzt für Frauenheilkunde. Von 1961 an arbeitete ich über 20 Jahre in eigener Praxis mit einer Belegkrankenhausstation von durchschnittlich 25 Betten in Neuwied am Rhein, die ich Anfang 1984 aus Altersgründen aufgab.
56564 Neuwied.
01 .06.1993

Joachim Niepelt


Inhalt
Erster Arztbesuch im Hundewagen
"Wollen Sie überhaupt hier bleiben?"
Einzug ins Städtchen
Erste Geburt - Erste Sprechstunde des Neuen
Entwicklung der Praxis - Russischer Kommandant
Selbstmord zwischen Paletots
Zwanzig Liter Wurstsuppe
Junikäfer im Ohr - Druckknopf in der Nase
Holzsplitterphlegmone - Tauber Opa
Artistenteppich
Vierlingsgeburt
Rübenschnitzelsack aus der neunten Etage
Trabrennfahrt nach Zixdorf
Diabetisches Riesenkarbunkel
"Kanone" "Fridolin" Flecktyphus im Quarantänelager
Benzinsorgen
Mondscheinfahrt mit Dieselöl
Dackelhochzeit mit Hindernissen
Dixi gegen Heuwagen
Gänsemord in Grabow
Rattengift im Kerzenschein
Bauernhochzeit
Küken mit Gipspantoffel
Betrachtungen eines Landdoktors - Blaue Limousine
Nebelfahrt
Besoffene Luxation
Fotosuche beim Kommandanten
"Neuer" Fridolin
Überfall in Garrey
Mandelabszess mit Glatteis
Dammnaht aus dem Nähkästchen
"Winterfreuden"
Hüftgelenksluxation im Schneegestöber
"Wer nie sein Brot mit Tränen aß ..."
Knallgasfahrt
Holzkauf mit Achsenbruch


ERSTER ARZTBESUCH IM HUNDEWAGEN

"Was, Sie kennen den Fläming nicht ...?" Mir ging es genauso, als mich das Schicksal dorthin verschlug. Das war im Frühjahr 1945, nach dem größten Sieg aller Zeiten. Zögernd tasten die ersten scheuen Strahlen der aufgehenden Sonne über die sanften Hänge des Flämings, streicheln die Konturen des alten Dorfkirchturms von Klepzig und huschen über die zarten Blättchen der ehrwürdigen Buche, um auf dem windschiefen Fachwerkhäuschen dort hinter der Friedhofsmauer auszuruhen. Die kleinen, butzenartigen Scheiben fangen an zu blinken und lassen die ersten Sonnenkringel in ein enges Stübchen fallen. Hier steht das kastenförmige Kinderbettchen dicht neben den beiden Feldbetten der Eltern. Unruhig wälzt sich der Vater auf dem knisternden Strohsack hin und her und stammelt schlaftrunken Laute, die die letzten Schreckenstage bewältigen wollen. Doch dann hat solch ein Sonnenkringel ihn wach gemacht und er blinzelt in die nebelsatten Lichter des erwachenden Maimorgens. Rasselnd quält die Kirchturmuhr fünf scheppernde Schläge zusammen und versucht, der Menschheit begreiflich zu machen, dass ein neuer Tag in einem neuen Jahrtausend beginnen soll. Ein Dorfköter jault seinen Gruß an diese neue Epoche in den Morgenhimmel und appelliert damit an die Solidarität sämtlicher Artgenossen dieses kleinen, kümmerlichen Holzfällerdörfchens. Sein Ruf verhallt nicht unbeantwortet und leitet die übliche animalische Morgensinfonie ein, die so deutlich, wie kaum etwas anderes, ein Symbol für die Kläglichkeit dieses jetzigen Daseins ist. Die geplante "Götterdämmerung" der verblassten Machthaber blieb uns wie durch ein Wunder erspart. - War das ein Vorteil? - Diese Ungewissheit lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Lohnt es sich denn überhaupt noch mitzumachen? War dieser bis zum Exzess getriebene Zusammenbruch nicht etwas so Endgültiges, dass jeder kärgliche Hoffnungsschimmer verloschen ist? Die Unrast reißt mich hoch, hinaus auf meinen Lieblingsplatz dort am Rande der narbigen Teerstraße unter die kleine Birke, die ihre zarten, betauten Blättchen in den ersten Morgenlichtern glitzern lässt. Und der Blick gleitet in die Weite über die Felder mit ihren ineinandergeschachtelten Rechtecken und Streifen, die in erdbraunen, flachsgelben und zartgrünen Pastellfarben durch die milchigen Nebelschleier zu leuchten beginnen. Dunkle Tupfen von Baumgruppen und Wäldchen beleben den bunten Teppich, der sich in sanften Wellen bis zum Horizont breitet. Schön ist es hier draußen, immer wieder von Neuem schön. Man glaubt die Stille dieses Maimorgens richtig hören zu können. Wie Scheinwerferarme streichen jetzt die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont und durchdringen den Dampf des Morgennebels, der sich über den Wiesen in dicken Kissen zusammenballt. Wie herrlich und beruhigend ist der Frieden dieser Morgenstunde. All das Elend, all der Jammer dieser Tage fällt von einem ab, und man empfindet nur noch beglückt das Wunder des Tagesanbruchs, das Erwachen der Natur. "He, Sie - hallo .. ."Ich werde aus meinen nachdenklichen Betrachtungen gerissen. - "Hier soll doch so'n Doktor wohnen." Vor mir hält ein uralter, klappriger und struppiger Senior der Kategorie Rösser. Aus einem originellen Gefährt, einem etwas zu groß geratenen vierrädrigen Handwagen, schwingt sich von einem Sitzbrett hurtig ein Männchen mit auffallend kurzen Beinen und großen Händen. Seine unruhigen Augen gleiten schnell über mich und dann hinüber zu dem schlafenden Dorf. "Ist jemand krank?", frage ich. Seine Aufmerksamkeit ist wieder auf mich gerichtet. "Na ja, das Kleine ist ja schon da, aber sie blutet doch so doll, und die Kindsfrau weiß kein Rat mehr. Hier soll doch so'n Doktor sein, der Flüchtling is - oder?" - "Los, kommen Sie mit!" Jäh wird meine Frau aus tiefem Schlaf gerissen, und bis sie recht zur Besinnung kommt, sitzen wir zu dritt auf dem wackeligen Wägelchen, das der Zottelgaul in unvorstellbar hurtigem Trab hinter sich herzerrt. Eine sehr intensive, etwas misstrauische Musterung durch unseren Kutscher haben wir gut überstanden. Nachdenklich hat er die handbreit hochgekrempelten Hosen meines besten und einzigen Anzugs registriert. Die Beinröhren enden in nicht übermäßig eleganten, dafür aber sehr zweckmäßigen Wülsten in Wadenhöhe. Die verwaschene Kittelschürze der Frau Doktor und das tarnende Kopftuch aus schwarzem Stoff wirken auch nicht unbedingt Vertrauen erweckend. Mein entschlossener Aufbruch hat aber wohl doch ausreichendes Vertrauen zurückgewonnen. Meine etwas trübseligen Selbstbetrachtungen werden durch das besorgniserregende Tempo, mit dem das Gefährt einen steil abfallenden, tief eingeschnittenen, höckrigen Hohlweg hinabsaust, jäh unterbrochen. Ich presse ängstlich meine alte Ledertasche, in der die wenigen Instrumente, die die Welterneuerung überstanden haben, herumpoltern, fest an mich und höre wenig auf die jetzt munteren Reden unseres Rosslenkers: "Da unten is es denn, wir sind gleich da!" Sein selbstgeschnittener Peitschenstiel aus einer Haselnussgerte weist auf die ersten Dächer eines in das Tal gestreckten Dörfchens, das von den schroffen Türmen und Mauern einer alten Ritterburg dort oben beherrscht wird. Mit jähem Ruck, der uns fast vom schmalen Sitzbrett reißt, bremst unsere Rosinante plötzlich, und wir verschwinden in dem kleinen Fachwerkhäuschen. Gut zwei Stunden sind vergangen, und wir hocken wieder zu dritt auf unserem Wägelchen. Diesmal, wie schon so oft in der letzten Zeit, sind wir in der entspannten, ja fast ausgelassenen Stimmung, die sich einstellt, wenn wieder einmal eine bedrohliche Situation glücklich überstanden wurde. Alles ist gutgegangen. Nach ein paar bangen Minuten war es geschafft. Ich sehe noch immer das dankbare Leuchten in dem blassen, müden Gesicht der Mutter, die im primitiven, selbstgezimmerten Bettgestell auf ihrem dünnen Strohsack liegt und ihr munter krähendes Lüttes fest an die Brust gedrückt hält. Zwei große Gläser Ziegenmilch und ein fester Händedruck des jungen Vaters, der nicht von der Seite seiner Frau gewichen war, das war das Honorar, das mich, wie noch kein früheres, gefreut hat. Das Gefühl, endlich einmal wieder etwas getan zu haben, was einen Sinn hat, was anderen Menschen nützt, ist doch ein schönes Gefühl. Wir rollen eine schnurgerade Waldschneise zurück, die den steilen Berg vom Hinweg etwas umgeht und die viel befahrene Hauptchaussee meidet, auf der die russischen Panzer rattern und endlos lange LKW-Schlangen der Trosseinheiten ziehen. Wieder umgibt uns die Stille des Waldes, in dem hin und wieder die nackten Skelette ausgebrannter Kriegsfahrzeuge und Stapel deutscher Munitionskisten an das, was gerade hinter uns liegt, erinnern. "Tja, Herr Arzt, in so 'ne vornehme Kalesche, wie die hier, sin Se sicher noch nich gefahrn, wie?" Als ich die Frage bejahe, fährt unser Kutscher schmunzelnd fort: "Ich bin ja nu schon 'ne Weile in diese Gegend, aber des is auch wirklich das Komischste, was die hier haben. Eigentlich gehört ja da nu'n strammer Köter vor die Karre, und denn nenn Se das 'Hundewagen'. Und des is das Hauptverkehrsmittel und auch die Transportkutsche hier in diese Gegend. Damit fahrn die kleinen Bauern ihren Mist auf die Felder und's Heu in de Scheune und's Korn zu de Mühle un de Großmutter zun Bahnhof und vielleicht ooch noch de Braut in de Kirche. Allens und allens macht der Hundewagen. Sind ebent allet arme Schlucker hier. Na, wern Se ja alles noch selber erleben, wenn Se hier bleiben sollten. - Wolln Se denn überhaupt bleiben?" Abschätzend schaut er mir ins Gesicht. Will ich denn wirklich hier bleiben, in einer landschaftlich wohl sehr reizvollen, aber äußerst kargen Landschaft, von den Endmoränen der Eiszeit tief zerfurcht, in einem weit gestreckten Hügelland zirka sechzig Kilometer südwestlich von Berlin gelegen?