Das Flämingdorf Werbig

Vorwort

Werbig, ein Angerdorf im "Hohen Fläming" mit ca. 200 Einwohnern und den Ortsteilen Egelinde, Verlorenwasser und Hohenspringe, liegt im Großkreis Potsdam-Mittelmark und wird vom Amt Belzig verwaltet. Werbig liegt an keiner Durchfahrtsstraße, sondern ist durch eine Landstraße an das Straßennetz im Süden nach Belzig - Görzke und im Norden nach Ziesar - Brandenburg angebunden. Seit einigen Jahrzehnten haben die Bürger ihren Wohnort zu einem modernen Aussehen verholfen und viel es verändert.
Im Rahmen einer ABM bekam ich über den Arbeits- und Ausbildungsförderverein die Gelegenheit, für die Werbiger Chronik zu recherchieren. Es begann problemreich, denn Werbig lag einst an der Grenze zu Brandenburg, Magdeburg / Jerichow I und Belzig und so fanden sich Akten in verschiedenen Archiven. Wenn unter Werbig nichts abgelegt war, entdeckte ich es unter Neu-Werbig. Nach jedem Fund, jedem Hinweis machte das Sammeln mehr Spaß.
Mit dieser Chronik möchte ich einen Einblick in die jahrhundertealte Geschichte des Dorfes Werbig geben, an Hand von Zahlen und Ereignissen und unter Nutzung der Materialsammlung zu einer früheren Chronik. Die Liebe zur Natur, zum Dorf und seinen Bürgern, das Nachdenken über Vergangenheit und Gegenwart charakterisieren diese Chronik. Sie bietet kein romantisches Bild, sondern vermittelt die Atmosphäre des Dorflebens von gestern und heute mit schönen und traurigen Erinnerungen aus dem harten Arbeitsalltag, den traditionellen Feiern und Festen und den Veränderungen, die der Fortschritt der Technik und der Zeit mit sich gebracht haben. Sie erinnert auch an Gewohnheiten und Bräuche.
Doch nicht nur aus zahlreichen Recherchen in Archiven, aus alten Akten, Dokumenten, Büchern und Zeitschriften habe ich die wichtigsten geschichtlichen Daten entnommen, sondern es halfen mir die Bürger aus dem Ort und den Ortsteilen mit Dokumenten, Bildmaterial (Familienalben) und Berichten, die Chronik im Rahmen meiner Möglichkeiten so objektiv wie möglich zu gestalten. Alte Dokumente und Aufzeichnungen sind in den Kriegs- und Nachkriegsjahren in Archiven und im Dorf (u.a. auch die Schulchronik von Werbig) verloren gegangen.
Durch die Recherchen im Ort habe ich die Menschen kennen und schätzten gelernt. Einige Bürger, wie Fritz und Gertrud Meltendorf sowie Alfred Wricke (er ist 71 Jahre und kam ständig zum gemeinsamen Treffen mit dem Fahrrad) begleiteten mich Stück für Stück bei meinen Nachforschungen. Jede Woche empfingen sie mich freundlich in ihrem Zuhause. Erna Hesse, Inge und Günter Paul, Paul Koch, Ursula Schulze, Waltraud Jänicke, Erika Brüning, Elfriede Siek, Familie Konrad Hahn und Familie Horst Dikall halfen mir weiter. Die Familien Ganzert und Mäckel aus Egelinde und Paul Burow aus Hohenspringe waren immer für mich ansprechbar und hatten viel Geduld bei meinen Fragen. Bei allen und auch bei den Leitern der Vereine der Freiwilligen Feuerwehr und des Schützenvereins möchte ich mich für die Zuarbeit bedanken. Die Türen vieler anderer Bürgern standen für mich offen und dafür möchte ich an dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschön sagen.
Mein besonderer Dank geht an Frau Kästner aus Belzig, die mir erste Hilfestellung gab und mich mit ihrem Wissen als Chronistin bis zum Buchdruck begleitete.
Ich wünsche den Bürgern der Gemeinde Werbig weiterhin eine glückliche und friedliche Zukunft und allen Lesern der Chronik viel Freude. Die Liebe zur Heimat sollte die Bürger von Werbig immer daran erinnern, die Aufzeichnungen der Chronik noch zu ergänzen und weiterzuführen.
Regina Thürmer im April 2003

Inhalt

Geschichtlicher Rückblick
Die ersten Ansiedlungen

Die Ersterwähnung
Das neue Dorf Werbig
Die Neudörfer
Aufruhr in Werbig
Der Name Werbig
Der Fläming und die Eiszeit rund um Werbig
Kriege und ihre Auswirkungen
Dreißigjähriger Krieg
Das Kriegerdenkmal
Aus der Heimat vertrieben (Werbiger Bürger erinnern sich)
Ein Wrack und seine Auswirkungen
Die Werbiger Kirche
Parochie Neuwerbig
Neubau einer Kirche in Werbig
Die Pastoren zu Werbig
Pfarrer Rudolf Röhr
Kirchendienst
Der Friedhof
Die Schulein Werbig
Briefe an die Königliche Regierung in Magdeburg
Umbau der Schule
Die Lehrerwohnung Altmann
Lehrer in Werbig
Die kommunale Entwicklung
Darstellung von gestern und heute
Ortsschulze, Bürgermeister und Sekretäre
Das Gemeindebüro
Was war los in der Gemeinde Werbig
Allgemeines
Straßen, Häuser und ihre Besitzer
Die Entwicklung der Landwirtschaft
Hüfner, Kossäten, Büdner
Flurnamen
Die Landwirtschaft nach 1900
Die Bodenreform
Die Planwirtschaft
Gründung der LPG Typ I bis Typ III
Milchviehanlage Werbig
Das Leben im Dorf
Licht und Wasser
Medizinische Betreuung
Die Post kommt
Handel und Versorgung
Eigenversorgung
Waschtag
Erntekindergarten
Bibliothek
Werbiger Handwerker erzählen aus ihrem Leben
Bräuche
Taufe und Paten
Konfirmation
Jugendweihe
Sonstige Feste
Polterabend und Hochzeit
Ostern
Pfingsten
Weihnachten
Totensonntag
Vereine, Kultur und Sport
Die Freiwillige Feuerwehr in unserer Gemeinde
Unser Schützenverein
Chor- und Laienspielgruppe
Jugendclub "Junge Gemeinde"
Der Sportplatz

Ein Kapitel

Ein Wrack und seine Wirkung

Jan Sternberg
Paul Koch überlebte 1945 den Untergang der "Steuben" - jetzt wurde das Schiff gefunden Meier sei sein Name gewesen. Matrose Meier aus Berlin. "Ihm verdanke ich mein zweites Leben", sagt der 76-jährige Paul Koch. Matrose Meier gehörte zur Besatzung eines Minensuchboots, das in der Nacht vom 9. zum 10. Februar 1945 durch die eiskalte Ostsee pflügte. In dieser Nacht sank das Flüchtlingsschiff "Steuben". Zwei Torpedos eines sowjetischen U-Boots trafen die "Steuben" gegen ein Uhr nachts.
4300 Menschen waren an Bord, Flüchtlinge aus Ostpreußen, meist Frauen und Kinder, und Verwundete von der zusammenbrechenden Ostfront. Nur 400 von ihnen wurden gerettet. Einer von ihnen war Paul Koch, damals 18 Jahre alt. Um vier Uhr morgens zog die Besatzung des Minensuchboots Kochs leblosen Körper von einer Rettungsinsel an Bord. Drei Stunden war Koch bewusstlos durch die nächtliche Ostsee getrieben.
Außer ihm war nur noch ein Besatzungsmitglied der "Steuben" auf der Rettungsinsel. Der kletterte die Strickleiter zum Minensuchboot hoch und sagte: "Um den müsst ihr euch nicht kümmern, der ist schon tot." Aber Matrose Meier aus Berlin wollte es genau wissen. Er steigt die Strickleiter herunter. "Da ist er mir vielleicht auf den Leib getreten und ich habe gestöhnt", vermutet Paul Koch. "Zwei Stunden lang haben die mich wiederbelebt." Um ein Uhr nachmittags wachte Paul Koch in einer Koje des Minensuchbootes wieder auf.
Jahrzehntelang hatte der heute 76 Jahre alte Paul Koch die Ereignisse dieser Nacht weggeschoben, erst kürzlich schrieb er die Geschichte seiner Rettung für die Enkelkinder auf. "Was auf dem Schiff geschah, kann man kaum beschreiben", steht dort über die Minuten nach dem Einschlag der Torpedos. "Wer einmal auf den Boden gefallen war, war rettungslos verloren."
Paul Koch hatte an der Front einen Granatsplitter in den linken Fuß bekommen, musste an Krücken gehen. Doch sein Überlebenswille trieb den jungen Mann an Deck. "Die Krücken hab ich nicht mehr gebraucht", sagt er kurz, und: "Auf der Treppe sind Menschen totgetrampelt worden, auch Frauen und Kinder." Aus dem Unterdeck hörte er Schüsse: "Die Soldaten dort unten haben sich massenhaft gegenseitig erschossen." Sie wussten, dass sie nicht mehr lebend herauskommen würden. Paul Koch aber schafft es bis an Deck. Als er oben ankommt, liegt das Schiff schon so schräg, dass er sich an Deck nicht mehr halten kann. Er springt in das eiskalte Ostseewasser. In der See treiben die Rettungsinseln, zweimal zwei Meter große Segeltuchbahnen mit einem 50 Zentimeter hohen Korkrand. Im Wasser tobt der Überlebenskampf: "Alle sind von einer Seite rein, dann sprang die Insel zur anderen Seite weg und alle fielen wieder raus", sagt Koch leise. "Jedes Mal waren wir weniger". Am Ende blieben nur noch Paul Koch und der Matrose von der "Steuben" übrig. Nach dem Krieg verschlug es Koch in das kleine Dorf Benken (Potsdam-Mittelmark). Im benachbarten Werbig lernte er im Winter 1945 seine spätere Frau kennen, der gelernte Vermessungstechniker aus Oberschlesien übernahm die Stellmacherei seiner Schwiegereltern. Die Erinnerungen an die "Steuben"-Katastrophe rückten über die Jahrzehnte in den Hintergrund. Bis Paul Koch vor wenigen Wochen einen Artikel in der MAZ entdeckte: Tauer Ulrich Restemeyer aus Paderborn habe das Wrack der "Steuben" 16 Seemeilen vor dem polnischen Stolpmünde (Ustka) in 23 Meter Tiefe entdeckt. Drei Jahre suchte der 44-jährige Wracktaucher nach der "Steuben". Von dem 78-jährigen Gerhard Döpke, der ebenfalls als verwundeter Soldat auf der "Steuben" war, bekam Retemeyer den entscheidenden Hinweis: Beim Untergang habe es keinen Sog gegeben, teilte ihm Döpke mit. Das hieß, das Wrack muss im flacheren Wasser zu finden sein. "Immer wieder habe ich gehört, das Wrack ist auf 60 bis 70 Metern Tiefe gesunken", erinnerte sich Restemeyer. "Aber die sind im Flachwasser gefahren, um U-Boote zu vermeiden".Genutzt hat es nichts: Das sowjetische U-Boot S 13 unter dem Kommando von Korvettenkapitän Alexander Marinesko findet den Konvoi, der aus der "Steuben", einem Torpedofangboot und einem Minensucher besteht, und greift an. Eine Woche zuvor hatte Marinesko bereits die "Wilhelm Gustloff" auf den Grund geschickt. "Die wussten gar nicht, was sie angreifen", ist sich Ulrich Restenmeyer sicher. Er hat mit dem letzten Überlebenden von S 13, dem Torpedisten Wladimir Karutschin, gesprochen: "Es hat das als Kriegsschiff gesehen. Alle Schiffe sind ja getarnt gefahren. Und sie hatten selbst so viel Angst, dass sie angegriffen werden."
Paul Koch macht der U-Boot-Besatzung keine Vorwürfe: "Die hatten ihre Befehle. Übrigens war die "Steuben" nicht als Rot-Kreuz-Schiff gekennzeichnet gewesen."
Ulrich Restemeyer ist von Wracks fasziniert. Er hat in den achtziger Jahren in Florida nach der spanischen Armada gesucht, nach der Mauereröffnung trieb es ihn dann auf die Ostsee. Er wollte die Überreste der versenkten Schiffe finden, die über 13000 Menschen mit in den Tod rissen. Ein politischer Mensch ist Ulrich Restemeyer nicht. Dass die "Wilhelm Gustloff", das berühmteste aller Flüchtlingsschiffe, zum Mythos der rechten Szene wurde, interessiert Restemeyer wenig. "Mir sind keine Neonazis begegnet", sagt er. Die "Wilhelm Gustloff" entdeckte er im August 1991. Auch die "Goya", mit der 6500 Menschen untergingen, hat er unlängst in 80 Metern Tiefe geortet. Die Suche beginnt sich für Ulrich Restmeyer auszuzahlen. Für den MDR wird er eine Dokumentation drehen: "Drei Schiffe, ein Schicksal""soll sie heißen.
Geredet über die Nacht in der Ostsee hat auch Paul Koch mit seinen Enkeln. Seine Tochter Brigitte ist froh darüber. Sie ist Lehrerin und hat immer wieder Probleme mit rechten Schülern. "Ich frage mich immer: Haben die denn keine Großeltern, die vom Krieg erzählen. Wenn sie wüssten, wie schlimm alles war, würden die doch aufhören, oder?".
(In: Märkische Allgemeine vom 17.09.2002)